Die Sondersitzung des Europaparlaments nach dem Brexitvotum der Briten fand in einer sehr gereizten und nervösen Atmosphäre statt. Der sozialdemokratische Parlamentspräsident Martin Schulz verwies in seiner Begrüßung zu diesem geschichtsträchtigen Tag darauf, daß erstmals in der Geschichte der EU eine Plenartagung derart kurzfristig einberufen werden musste. Euphorisch begrüßte er die zahlreich erschienen Abgeordneten und wies darauf hin, daß die Kommission trotz kurzfristiger Einladung komplett erschienen ist, einschließlich des zurückgetretenen britischen Finanzkommissars Hill. Dann bedankte er sich bei all denen, die mit ihm zusammen für Europa so „großartig“ gearbeitet haben. Seine Begrüßung klang damit fast wie eine Abschiedsrede für eine trauernde Gemeinde.
Frau Hennis-Plaschart sprach für den nicht erschienenen Ratspräsidenten Donald Tusk zu recht belanglosen Selbstverständlichkeiten. Sie appellierte an den Zusammenhalt der verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten und verlieh Ihrer Hoffnung Ausdruck, daß Großbritannien durch seinen Antrag auf Austritt aus der Union für baldige Klarheit sorgen möge. Sie schloß mit dem Wunsch, daß es künftig eine wirksamere und überzeugendere EU geben möge.
Der Kommissionspräsident Junker traf dann die eigentlich selbstverständliche Feststellung, daß „der Wille der Mehrheit des britischen Volkes respektiert werden müsse“! – Als er darauf tosenden und anhaltenden Applaus von den Rechten bekam, meinte er zu uns gewandt: „ Ich bin überzeugt, daß dies heute das letzte mal ist, daß Sie mir applaudieren werden“.
Mit gesenkter Stimme meinte er, „ich selbst bin unendlich traurig über diese Entscheidung. Ich hätte mir gewünscht, daß Sie für immer an unserer Seite stehen. Jetzt haben sie anders entschieden und müssen daraus die Konsequenzen ziehen.“
Dann widersprach er den Verschwörungstheorien, daß zur Zeit schon Geheimverhandlungen mit der englischen Regierung stattfinden würden. Er bekräftigte dies mit dem Satz: „Es gibt keine Geheimverhandlungen“ und führte zum Beweis darüber aus, „ich habe allen meinen Kommissaren und Direktoren verboten mit den Engländern zu sprechen bevor diese endlich den Austritt nach Artikel 50 beantragt haben!“ – Mich erinnerte dies an den „Kommissarbefehl“ in den deutschen Abwehrkämpfen in Rußland während des II. Weltkrieges. Dann richtete er seine Stimme wieder auf und forderte einen neuen Stellenwert für die soziale Frage in Europa. Und rief inbrünstig: „Europa geh voran!“
Europa müsse seiner Meinung nach ein Friedenprojekt mit neuen Ideen werden. Dann sagte er belehrend: „Ich bin nicht krank, wie einige deutsche Medien schreiben, ….. seien Sie versichert, ich werde mich bis zur letzten Stunde für den europäischen Gedanken einsetzen! – Ich will jetzt, daß unsere britischen Freunde sagen, was Sache ist. – Der europäische Traum geht weiter! Die Zukunft gehört der Jugend Europas!“
Diese Dogmatismus steigernde Durchhalterede erinnerte fast an die Durchhalteappelle von Stalingrad, allzu überzeugend war sie nicht. Auch ich bin überzeugt, daß die Zukunft Europas der Jugend gehören wird. Aber die Jugend will ganz sicher nicht das technokratische, gefühlskalte Europa der Banken und Spekulanten, sondern ein Europa freier und souveräner Völker. Wir werden ja sehen, was die Zukunft bringt.
Ansonsten war diese Sondersitzung merklich geprägt von Emotionen, Zwischenrufen und Gebrüll, das ich so in diesem Hause noch nicht kannte.
Als der britische Fraktionsvorsitzende Nigel Farage sprach, gingen die „Wogen hoch und man merkte, daß die Nerven bei einigen Etablierten blank lagen: „Ich begann meine Austrittskampagne hier in diesem Haus vor 17 Jahren. Damals haben sie über mich gelacht! – Heute, meine Damen und Herren, heute lachen sie nicht mehr!“
„Wir wollen unser Land zurück!“ Rief er in das Toben und Schreien der Etablierten und gab diesen abschließen seine Vision mit auf dem Weg indem er versicherte: „Das Vereinigte Königreich wird nicht der letzte Staat sein, der die EU verlässt!“ Marine Le Pen nannte den bevorstehenden Austritt Großbritanniens „das wichtigste politische Ereignis seit dem Fall der Berliner Mauer“ und stellte fest, daß sich das Volk souverän über die Propaganda der EU-Medien hinweggesetzt habe. Der Patriotismus sei die Zukunft Europas!
Während in der in der nachfolgenden Debatte Präsident Juncker resümierte, er habe aufmerksam zugehört und werde dafür streiten, die Nationen nicht den Nationalisten zu überlassen, rief der Niederländer de Graaf (PVV): „Die Befreiung Europas beginnt jetzt! …. Das Votum zeigt: Die Völker wollen ihre Souveränität zurück!“
Leider gab es für mich als fraktionsfreien Abgeordneten keine Möglichkeit in die Debatte einzugreifen. Aufbauend war sie dennoch, am Geschrei der etablierten merkte man überdeutlich, daß unsere Hoffnung auf eine neues Europa keine Vision bleiben muß! Die Veränderung hat begonnen und wir sind mitten drin!
Natürlich stimmte ich dem fraktionsübergreifenden Antrag der Etablierten nicht zu, der zwar die Engländer aufforderte schnellstmöglich den Antrag zum Austritt zu stellen, im gleichen Atemzug aber ein weiteres Zusammenschmelzen der Mitgliedsländer hin zu einem Bundesstaat Europa, als rettenden Anker vor weiteren Austritten, vorsieht. Gegenüber dem Parlament habe ich hierzu folgende Abstimmungserklärung abgegeben: „Diese Resolution zeigt deutlich, dass man in Brüssel das Votum der Bürger im Vereinigten Königreich, dessen Mehrheit für einen Ausstieg auch auf die Bevölkerungen vieler anderer EU-Staaten übertragbar ist, nicht verstanden hat. Zwangsweise soll die Restunion nun zu einer Art Bundesstaat umgeformt werden, um weitere Abspaltungen künftig schwieriger zu gestalten. Daher ist dieser Entschließungsantrag abzulehnen.“
Brüssel, den 29.06.2016
Udo Voigt, MdEP